Digitales Vorverfahren im Zivilprozess

Das digitale Zeitalter hat Vor- und Nachteile. Die Vorteile überwiegen. Prof. Greger (Prof. Dr. Reinhard Greger, Universität Erlangen-Nürnberg, FB-Rechtswissenschaft) macht Vorschläge wie man bereits zu Beginn eines Zivilrechtsstreits effizient und für die Parteien zeit- und kostensparend vorgehen könnte.

Die Effizienz des Zivilprozesses leidet nach Prof. Greger, unter der Fokussierung auf die mündliche Verhandlung. Schon vor Zustellung der Klage wird (außer bei Wahl eines schriftlichen Vorverfahrens) ein Verhandlungstermin bestimmt (§ 274 Abs. 2 ZPO), die Ladung der Parteien zu diesem Termin veranlasst (§ 274 Abs. 2 ZPO) und ein Sitzungsraum belegt – zu einem Zeitpunkt, an dem der Verlauf des Verfahrens noch gar nicht absehbar ist.

Bei den Amtsgerichten enden jedoch rund 70 % der Zivilprozesse, ohne dass tatsächlich eine Sitzung stattfindet, beim LG rund 40 %; ein streitiges Urteil ergeht beim AG in rund 26 %, beim LG in rund 40 % der Verfahren. Bis zur Sitzung reichen die Anwälte Schriftsätze ein, verfestigen die Positionen, erstrecken den Sachvortrag auf Nebenpunkte usf. Termine müssen verlegt oder vertagt werden. Es entsteht (oft nutzloser) Aufwand für Anreisen, Vorhalten von Räumen, Warte- und Arbeitszeit.

Informeller Erörterungstermin - Runder Tisch - virtuell
Verweisung vor den Güterichter
Schriftliches Vergleichsverfahren
Ergänzung-Strukturierung Parteivortrag, Zusammenstellung in einem elektronischen Basisdokument

Verfahrensgang bei Klageeinreichung – digitales Vorverfahren

Ein wesentlicher Beitrag zu Effizienzsteigerung und Ressourcenschonung könnte nach Meinung von Prof. Greger daher erreicht werden, wenn das Ansetzen einer mündlichen Verhandlung auf die Fälle beschränkt werden würde, in denen es einer solchen mündlichen Verhandlung tatsächlich bedarf, und wenn in diesen Fällen die mündliche Verhandlung konzentrierter und zielgerichteter durchgeführt werden würde. Dies erfordert nach Greger ein Vorklärungsverfahren, welches mithilfe der digitalen Technik mit geringstem Aufwand und in kürzester Zeit durchgeführt werden kann.

Ausgangspunkt ist die bei Zustellung der Klage zu treffende Entscheidung des Vorsitzenden, ob er einen frühen ersten Termin oder ein schriftliches Vorverfahren anordnet (§ 272 Abs. 2 ZPO). Mit der Entscheidung für einen frühen ersten Termin ist bereits der Weg in die mündliche Verhandlung vorgezeichnet. Sie sollte deshalb nur dann getroffen werden, wenn die Klageschrift erkennen lässt, dass ein Haupttermin mit großer Wahrscheinlichkeit erforderlich werden wird und zu dessen Vorbereitung eine mündliche Verhandlung mit den Parteien sachgerecht ist. Ist dies ausnahmsweise der Fall, sollte der „frühe erste Termin“ ehestmöglich abgehalten und gem. § 272 Abs. 1 ZPO nach Art einer „case management conference“ oder Organisationsverhandlung auf die Verfahrensplanung ausgerichtet werden. Dies kann auch durch Videoübertragung nach § 128a ZPO geschehen.

In allen anderen Fällen sollte, nach Greger, die Möglichkeit eines digitalen Vorverfahrens eröffnet werden. Hierzu ordnet der Vorsitzende das schriftliche Vorverfahren nach § 276 ZPO an. Bei fehlender Verteidigungsabsicht des Beklagten kann der Rechtsstreit dann sogleich durch Versäumnisurteil ohne mündliche Verhandlung erledigt werden (§ 331 Abs. 3 ZPO). Nach Eingang einer Klageerwiderung (und ggf. einer vom Vorsitzenden angeordneten Replik des Klägers) verfügt der Vorsitzende nicht standardmäßig die Ladung zum Haupttermin, sondern prüft, ob sich der Fall für eine vorherige Erörterung des Verfahrensablaufs mit den Parteivertretern eignet. In diesem Fall, der die Regel darstellen sollte, setzt er als vorbereitende Maßnahme i.S.v. § 273 Abs. 1 ZPO einen Erörterungstermin (Organisationstermin, Verfahrenskonferenz) an, der in der Regel digital per Video-Übertragung, in einfachen Fällen telefonisch, ausnahmsweise auch als persönliche Besprechung, abgehalten wird. Dort werden nach Art einer Roadmap Art, Abfolge und Zeit der beabsichtigten Verfahrenshandlungen festgelegt.

 

Je nach den Umständen des Einzelfalls kommen in Betracht:

  • ein informeller (z.B. am runden Tisch durchgeführter) Erörterungs- oder Gütetermin mit anwesenden Parteien
  • eine Verweisung vor den Güterichter (§ 278 Abs. 5 ZPO)
  • ein Ruhen des Verfahrens wegen eines außergerichtlichen Einigungsversuchs (§ 278a ZPO)
  • ein Strukturgespräch mit beratender Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 144 Abs. 1 Satz 1 ZPO)
  • ein schriftliches Vergleichsverfahren (§ 278 Abs. 6 ZPO)
  • die Ergänzung oder Strukturierung des Parteivortrags, ggf. Zusammenstellung in einem elektronischen Basisdokument (§ 139 Abs. 1 Satz 3 ZPO)
  • die Einholung eines Sachverständigengutachtens per vorterminlichen Beweisbeschluss (§ 358a ZPO)
  • eine Entscheidung im Verfahren ohne mündliche Verhandlung (§ 128 Abs. 2 ZPO)
  • die Herbeiführung einer Erledigung der Hauptsache (§ 91a ZPO)
  • Des weiteren können Maßnahmen zur Sachaufklärung abgesprochen werden, die eine mündliche Verhandlung entbehrlich machen oder zumindest die Erledigung in einem einzigen Termin fördern können, wie z.B. die Beiziehung von schriftlichen Unterlagen (§ 142 ZPO), die Verwertung eines Gutachtens aus einem anderen Verfahren (§ 411a ZPO), die Einnahme eines Augenscheins (§ 144 Abs. 1 ZPO), die Anforderung einer schriftlichen Zeugenaussage (§ 377 Abs. 3 i.V.m. § 358a Satz 2 Nr. 3 ZPO), die Verständigung auf eine Internet-Recherche und dergleichen mehr.

Der erörterte Verfahrensplan wird sodann mit entsprechenden Verfügungen umgesetzt. Das Verfahren wird durch einen elektronischen Leitfaden unterstützt, der auch bearbeitbare Vorlagen für die in Betracht kommenden Verfügungen enthält. Die Abstimmung des Termins für die Verfahrenskonferenz erfolgt ebenfalls mithilfe eines elektronischen Tools, gegebenenfalls auch die Erstellung eines digitalen Basisdokuments. Die Kommunikation zwischen den Prozessbeteiligten findet weitgehend online statt.

 

Systemgerechtigkeit

Das digitale Vorverfahren ist dabei nur eine Ausprägung der im richterlichen Ermessen liegenden Prozessleitungsbefugnis. Es steht dem Vorsitzenden frei, ob und in welcher Form er hiervon Gebrauch macht. Alle damit verbundenen Verfahrenshandlungen finden ihre Grundlage im geltenden Recht. Auch wenn die ZPO anders als VwGO und SGG den informellen, lediglich parteiöffentlichen Erörterungstermin nicht explizit als Maßnahme der Verhandlungsvorbereitung anführt, ist er durch § 273 ZPO, der in Abs. 2 lediglich eine beispielhafte Aufzählung vorbereitender Maßnahmen enthält, gedeckt.

Das rechtliche Gehör der Parteien wird nach der Auffassung von Prof. Greger in keiner Weise eingeschränkt, durch die intensivere, gemeinschaftliche Kommunikation mit dem Gericht vielmehr erheblich gestärkt. Der Anspruch auf öffentliche mündliche Verhandlung nach Art. 6 Abs. 1 EMRK bleibt unberührt, weil das digitale Vorverfahren nur die Möglichkeit einer unstreitigen Erledigung des Rechtsstreits bietet; sind die Parteien nicht dazu bereit, ist mündlich zu verhandeln. Der Öffentlichkeitsgrundsatz des § 169 GVG gilt nicht für die Kommunikation außerhalb der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht.

Dass Verfahrenskonferenzen als rechtsstaatlich unbedenkliche Elemente einer effizienten Rechtsprechung anzusehen sind, zeigt auch der Blick auf moderne Verfahrensordnungen im Ausland (z.B. Rule 29.3 Civil procedure Rules; Art. 226 der schweizerischen ZPO) und in der Schiedsgerichtsbarkeit (z.B. Art. 27 DIS-Schiedsordnung; Art. 24 ICC-Schiedsordnung). Nach dem Referentenentwurf eines Justizstandort-Stärkungsgesetzes hat beim künftigen Commercial Court grundsätzlich ein „Organisationstermin“ stattzufinden, in dem Vereinbarungen über die Organisation und den Ablauf des Verfahrens zu treffen sind.

Dass die Erörterungen per Video-Übertragung stattfinden können, ist unbedenklich, nachdem § 128a ZPO diese Übertragungsform sogar für die mündliche Verhandlung vor dem erkennenden Gericht zulässt. Für die Anwaltschaft bringt ein IT-gestütztes Vorklärungsverfahren nur Vorteile. Rein formale oder leerlaufende Sitzungstermine entfallen. Die Kommunikation mit dem Gericht wird erleichtert und intensiviert, das Schriftwerk reduziert. Gebührenrechtlich entsteht kein Nachteil, weil weder die Termins- noch die Einigungsgebühr von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abhängig ist.

 

Als Vorteile nennt Prof. Greger

  • Beschränkung des mit mündlicher Verhandlung verbundenen Aufwands für Richter, Justizpersonal, Rechtsanwälte, Parteien und Beweispersonen durch Vermeidung unnötiger Sitzungen und Reisen (ökonomisch und ökologisch von Vorteil)
  • Erhebliche Beschleunigung des Verfahrens, weil nicht – unter Umständen monatelang im Voraus – auf den nächsten freien Sitzungstermin anberaumt (und dieser, wie so oft, wieder verlegt) werden muss
  • Weitgehender Einsatz von Telekommunikation ohne die Erschwernisse der Video-Übertragung aus öffentlicher mündlicher Verhandlung
  • Einfache und schnelle Terminsabstimmung auf elektronischem Weg
  • Verbesserung der Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten durch Zusammenschaltung und informelle Atmosphäre
  • Ausloten unstreitiger Erledigungen in einem frühen Verfahrensstadium
  • Transparenz des Verfahrensablaufs durch Abstimmung mit den Parteivertretern
  • Erhellung des Sachvortrags durch Vermeiden unstrukturierten Schriftsatzwechsels
  • Konzentration der mündlichen Verhandlung (soweit erforderlich) auf einen umfassend vorbereiteten Haupttermin (ohne Pflicht zur Güteverhandlung nach § 278 Abs. 2 ZPO, da fehlende Erfolgsaussicht schon geklärt)
  • Bei Erstellung eines Basisdokuments erleichterte Abfassung des Urteilstatbestands
  • Vermeidung von Rechtsmittelverfahren wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs, z.B. weil Sachvortrag oder Beweisangebot übergangen, rechtlicher Hinweis nicht gegeben wurden

 

Auswertung

An dem Projekt teilnehmende Richterinnen und Richter werden von Prof. Greger gebeten, über die mit dem digitalen Vorverfahren gemachten Erfahrungen zu berichten, insbesondere zu folgenden Fragen:

  • Führt das digitale Vorverfahren zu kürzerer Verfahrensdauer?
  • Können mehr Verfahren unstreitig beendet werden?
  • Bewährt sich die informelle Video-Kommunikation?
  • In welchem Maß bleiben mündliche Verhandlungen nötig und wie wirkt sich das digitale Vorverfahren auf diese aus?
  • Welche Auswirkungen hat es auf die eigene Arbeitsbelastung?
  • Wie sind die Reaktionen der anderen Prozessbeteiligten?

Selbstverständlich sind auch Erfahrungsberichte von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten höchst willkommen, die an digitalen Vorverfahren teilgenommen haben!

Kontakt

Bitte senden Sie Ihre Erfahrungsberichte an: post@reinhard-greger.de

Anwalt für Handelsvertreterrecht
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Rechtsanwalt Norbert Wolff

Seit 28 Jahren Anwalt für Handelsvertreterrecht. Studium der Rechtswissenschaften in Erlangen und München. Tätigkeit bei einer Bundesbehörde und als Richter mit einer Abordnung an ein Landes-Justizministerium. Von 1995 bis September 2023 Geschäftsführer eines Handelsvertreterverbandes mit beratender und forensischer Tätigkeit. 28 Jahre Prozesserfahrung bei der Geltendmachung von Ausgleichsansprüchen nach § 89b Handelsgesetzbuch (HGB) und der Geltendmachung von Buchauszügen und Provisionsansprüchen.